Georg Toepfer
Historisches Wörterbuch der Biologie, Rezension

walthari.com (30. Dezember 2011)

Besprechung von Erich Dauenhauer

Die Biologie ist neben der Physik, insbesondere der Quantenphysik,  die unbestrittene Leitdisziplin im Wissenschaftskosmos. Was sie an Erkenntnissen zu bieten hat, ist für Geistes- und Sozialwissenschaftler so bedeutsam wie für Ingenieure, Architekten, Mediziner u.v.a. Aber auch jenseits der Wissenschaften ist die Biologie in unser alltägliches Bewußtsein und Verhalten vorgedrungen, von der Ernährung (Bio) bis zur Müllentsorgung und zum Biokraftstoff. In Feuilletons und auf Symposien wird über Bionik, Gentechnik, Robotik und Nanotechnologie gestritten, wobei biologisches Hintergrundwissen stets eine Rolle spielt. Kein (Moral-)Philosoph kann es sich mehr leisten, biologische Fragestellungen zu übergehen. Selbst Erkenntnistheoretiker und Theologen kommen ohne den Blick auf die rasanten Fortschritte in der Biologie nicht mehr aus. Ob die Natur neben dem Sein auch zum Sollen etwas zu sagen hat, wird auf biologischen Erkenntnisrastern zu beantworten versucht. 

Die Zeit war reif für ein umfassendes Wörterbuch der Biologie, das die Grundlagen dieser Leitwissenschaft auch für Nichtbiologen darbietet. Nach dem Vorbild des ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ holt Georg Toepfer nicht nur systematisch, sondern auch historisch weit aus, und dies mit gutem Grund. Denn der Sinngehalt von Theorien und Fakten ist interpretationsphilosophisch nur in geschichtlicher Herleitung angemessen zu fassen.

Man staunt: G. Toepfer hat es gewagt, als Einzelautor sich dieser gewaltigen Aufgabe zu stellen. Nicht weniger als 112 Haupteinträge und 1.760 Nebeneinträge werden anhand von Leitvokabeln geboten. Im ersten Band vorangestellt wird eine 36seitige Einleitung, die sich bei dem Vorhaben begriffsgeschichtlich und -systematisch vergewissert, eine überblickartige Sachordnung herstellt und die Hauptquellen aufführt. Dieser Text ist Pflichtlektüre für jeden Benutzer. Schon diese Ausführungen sind eine wahre Fundgrube für strukturelles Denken, so etwa, wenn die Unterschiede zwischen Organisation, Funktion, Form, Typus, Entwicklung, Verhalten, Fortpflanzung, Evolution, Ökosystem und Kultur auch visuell veranschaulicht und die Grundbegriffe anschließend zugeordnet werden. Der Einleitung folgen ein Wortverzeichnis, ein Abbildungsverzeichnis und ein Tabellenverzeichnis.

Erst beim stichwortartigen Probelesen begreift man den stupenden Aufwand und die Sorgfalt des Autors, der philosophisch geschult ist und in Berlin lehrt. Ohne einen fachübergreifenden Wissenshintergrund sind die häufig interdisziplinär verschränkten Sachverhalte sachgerecht gar nicht darstellbar. Beispiel: Bewußtsein. Auf den 35 Seiten geht es zunächst um Definition, Begriffsgeschichte und Bewußtseinstypen, ehe das Phänomen systematisch angegangen wird:  anhand der Nebeneintragungen Selbstbewußtsein, Bewußtsein als Evolutionsprodukt, weiter und enger Bewußtseinsbegriff, Vor- und Unterbewußtsein, kognitive Ethologie, systemtheoretische Bewußtseinstheorien, Bewußtsein/Besonnenheit, Bewußtsein/Freiheit, Ontologie des Bewußtseins u.a. Das Libet-Experiment kommt ebenso zur Sprache wie sozialpsychologische und weitere Interpretationen. Stets wird kritisch und orientierungsweit abgewogen. Nicht weniger als 285 Anmerkungen stützen allein diesen Text und lassen den Leser mit dem Schlußeintrag Metakognition so ambivalent zurück, wie man es bei Bewußtseinsphilosophen gewohnt ist. Naturalistische Herleitungen des Bewußtseins befriedigen ebensowenig wie systemlogische Zuschreibungen. Wann, wie und warum der Geist zum Menschen kam, läßt sich biologisch nicht beantworten. Zu lesen, welcher enorme wissenschaftliche Aufwand dazu betrieben wurde und wird, ist dennoch lohnend.

Von jedem der 112 Hauptbegriffe geht ein unwiderstehlicher Lesereiz aus. G. Toepfer gelingt es, auch komplexe fachspezifische Zusammenhänge allgemeinverständlich und wohltuend kritisch zu präsentieren. Das will was heißen in einer Zeit, da die Wissenschaften sich immer weiter vom Laiendenken entfernen, indem sie sich schon sprachlich einmauern. Insofern ist der ›Toepfer‹ ein Geschenk auch an ein breites Publikum. Man erfährt über die Natur, aber auch über ihre gesellschaftliche Relevanz, was derzeit Stand der Forschung ist.

Die Artikelreihe beginnt mit Analogie und endet mit Zweckmäßigkeit. Dazwischen öffnet sich ein Wissenskosmos weit über biologisches Spezialwissen hinaus. Dafür sorgen auch für Nichtbiologen so anziehende Einträge wie Bedürfnis, Bioethik, Empfindung, Ernährung, Gefühl, Gleichgewicht, Individuum, Information, Intelligenz, Koexistenz, Konkurrenz, Krankheit, Kultur, Kulturwissenschaft, künstliches Leben, Lernen, Organisation, Schlaf, Spiel, Verhalten, Wachstum u.a. Der Artikel ›Räuber‹ ist einer der kurzen Einträge. Ich lese den Text im Zusammenhang von Konkurrenz und Wachstum und bin verwundert, daß Kooperation nur kurz erwähnt wird (Bd. II, S. 284) und die ökonomisch stark entfaltete Wettbewerbs- und Wachstumstheorie übersehen wurde. Hier hätte mal die Biologie  von der Ökonomie und Soziologie lernen können. Konkurrenz wird keineswegs immer durch eine "Maximierung" der Fortpflanzung (Bd. II, S. 277) angetrieben; es geht auch um Macht (Status), nicht nur unter Menschen.

Eine bedauerliche Lücke ist bei Wachstum zu verzeichnen. Es fehlt jeglicher Hinweis auf die Endoreduplikation, d.h. auf das Wachstum jenseits der Zellteilung, das bis zu fünfzig Prozent des Biomassewachstums ausmacht. Bei Endoreduplikation verdoppelt die Zelle ihr Erbgut nicht durch Tochterzellen, sondern durch eine zyklische interne Vermehrung der Chromosomenzahl (vgl. ›Nature‹; doi: 10.1038/nature 10579). Beim Reifen einer Tomate laufen beide Prozesse parallel. Eine Rolle spielt dabei das Eiweiß E2F1. Da der Endoreduplikation nicht nur in der Landwirtschaft eine große Zukunft vorhergesagt wird, wäre eine Ergänzung im Internetsupplement angezeigt.

Was das Historische Wörterbuch der Biologie auszeichnet, ist nicht allein die Bewältigung des immensen Stoffes und dessen interdisziplinären Verschränkungshinweise. Der Autor bindet den halben Kanon der Allgemeinbildung mit ein. Einbezogen werden Literaten, Philosophen, Historiker, Ökonomen u.a. Die Ausführungen über Kommunikation (Bd. II, S. 244 - 276, mit 294 Stellenverweisen) fallen mustergültig aus. Biosemiotisch und biosynthetisch steht uns allerhand bevor.
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